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Speculative Fiction als Untersuchungsmethode: Prof. Dr. Felicitas Macgilchrist stellt Paper an Universität Utrecht vor

Screenshot vom Seminar „Transmissions in Motion“ der Universität Utrecht

Wie sieht Schule im Jahr 2040 aus? Welche soziotechnischen Assemblages werden geformt? Wie werden Lernende als Subjekte adressiert?

Diese Fragen stellt sich Prof. Dr. Felicitas Macgilchrist in ihrem PaperStudents and society in the 2020s. Three futurehistoriesof education and technology”, das sie gemeinsam mit Heidrun Allert und Anne Bruch geschrieben hat und über welches sie im Seminar “Transmissions in Motion” der Universität Utrecht berichtete. In ihrem “Social Science Fiction”-Paper formulieren die Autorinnen drei unterschiedliche Zukunftsversionen. 

In der ersten werden Lernende zu sogenannten „smooth users“ , die sich selbst im Streben nach reibungsloser Effizienz innerhalb eines post-demokratischen Rahmens, der von großen Konzernen geschaffen wurde, optimieren. Weil in den 2020ern auf Digitalisierung und ihre Herausforderungen reagieren werden musste, wurde Bildung wurde durch technologische Unterstützung “geglättet”, Entrepreneur*innen und Tech-Unternehmen wurden zu Berater*innen der Regierung, Entscheidungen fanden hinter verschlossenen Türen statt und die Schulen wurden von Unternehmen abhängig. Lernsoftware wurde besonders benutzerfreundlich, reibungslos und wegweisend designt, was die Schüler*innen weniger selbstständig werden ließ, vor allem in nicht-kognitiven Lerndimensionen, und ihre Selbstoptimierung wurde zum maßgeblichen Prozess. 

Die zweite Vision sagt Lernende als „digitale Nomaden“ voraus, welche Freiheit, Individualismus und ästhetische Freude als Solopreneurs suchen, welche staatliche Regulierungen und algorithmische Regeln ausnutzen, während sie tief in eine kapitalistische neue Ökonomie einsteigen. In den 2020ern lebten diese Nomaden in Ländern mit geringen Lebenshaltungskosten, arbeiteten aber in Hochlohnländern. Durch ein Verständnis von Algorithmen und eine authentische, unabhängige Entrepreneur-Identität bauten sie eigene Marke auf, verdienten dadurch sehr viel Geld, auch weil sie staatliche Regulierungen wie Steuern umgingen, und schulten ihre Kinder online und/oder zuhause. Die technische Unterstützung ihres holistischen Lebensstils erfolgte vor allem durch Techniken wie das Life-/Bio-Hacking und die Datenmonopole großer Tech-Riesen manifestierten sich. 

In der dritten Vision sind Lernende partizipatorische, demokratische, ökologiebewusst lebende  Menschen, eingebettet in eine „kollektive Handlungsfähigkeit“, die Institutionen als Räume für die Erforschung gerechterer Lebensweisen sehen. In den 2020ern wurde realisiert, dass der Kapitalismus schlechte Auswirkungen auf soziale Gerechtigkeit, Umwelt und Unabhängigkeit hatte. Privacy by Design wurde in der EU Pflicht für Lernsoftware, OER und Open Source wurden gefördert und etabliert, Schüler*innen lernten in Hackathons, Software zu verändern und zu entwickeln und Datenaktivismus sowie demokratische, umweltbewusste Verantwortung wurden geschult. 

Die drei Visionen entstanden aus der Analyse derzeitiger Bildungsdiskurse und entwicklungen. In diesem kritischen, diskurstheoretischen Forschungsansatz lag der Fokus vor allem auf Prozessen der Subjektivierung. Der Ansatz bietet zudem mehrere Zugänge für folgende Forschungsfragen, da ein spekulativer Approach in (ethnografischer) Forschung dabei helfen kann, relevante Ereignisse bzw. Brüche besser wahrzunehmen und neue Gegenstände zu erkennen.  

Als ein solches GegenstandsBeispiel nennt Macgilchrist im TiM-Seminar-Podcast die Datafizierung. Hier könnten durch ein spekulatives Forschungsdesign das Tracking von Lernenden, die kapitalistische Nutzung der (Lern)daten und Beispielprojekte, in denen auf Data Justice wertgelegt wird, genauer analysiert werden. In ihrem gerade entstehenden Paper über Predictive Analytics widmen sich Felicitas Macgilchrist und Juliane Jarke aus dem DATAFIED-Projekt beispielsweis einem Programm, dass Schüler*innen meldet, deren Versetzung gefährdet ist. Ein Bereich dieser Software ist das “Social Learning” als prädiktiver Faktor. Hier trackt die Software, welche Lernenden besonders viel mit anderen innerhalb der Plattform kommunizieren, was dann in einer Netzwerkkarte mit Farbcodes visualisiert wird und in die Risikoanalyse einfließt. Das Problem: die Software trackt keinen physischen Austausch unter den Lernenden, sondern nur das, was auf der Plattform selbst stattfindet. In Zukunft könnte es also sein, dass die Lernenden ihre Kommunikation komplett auf die Plattform verlegen, um einer negativen Risikoeinschätzung durch das System entgegenzuwirken. Wichtige risikomindernde face-to-face Interaktionen könnten von Lehrenden übersehen werden, da sie nicht vom Softwaresystem “mitgezählt” werden. 

Für ein Problem hält Macgilchrist, dass sich der öffentliche bildungspolitische Diskurs noch zu sehr auf die Verfügbarkeit von und Ausstattung mit Hardware konzentriert. Software wird hier fast ganz ignoriert, obwohl auch sie wichtige politisch-soziale Fragestellungen impliziert: Wie sind Entwickler*innen hinsichtlich sozialer Implikationen ihrer Handlungen geschult? Warum ist dies bisher kein Teil ihrer Ausbildung und was bedeutet das? Wie divers sind Entwicklerteams und wie spiegelt sich dies in Software wider? Wie können Erfahrungen von Ausgrenzung in Softwareentwicklung einfließen und wie wird auf Diskriminierungsvorfälle in Lernsoftware reagiert? 

 

Links zum erwähnten Paper und dem Vortrag: 

Felicitas Macgilchrist, Heidrun Allert & Anne Bruch (2020) Students and society in the 2020s. Three futurehistoriesof education and technology, Learning, Media and Technology, 45:1, 76-89, DOI: 10.1080/17439884.2019.1656235 

What Follows for Students & Society in the 2020s? 3 Speculative Futures for Education & Technology” (Recorded Session) https://transmissioninmotion.sites.uu.nl/tim-recorded-session-what-follows-for-students-society-in-the-2020s-three-speculative-futures-for-education-technology/ 

TiM Seminar Podcast #3: Felicitas Macgilchrist on Speculative Futures for Education and Technology https://transmissioninmotion.sites.uu.nl/tim-seminar-podcast-3-felicitas-macgilchrist-on-speculative-futures-for-education-and-technology/ 

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